Folgen: aus dem Hause Cottbuser General-Anzeiger Verlag GmbH

Ekstatisches Zucken
Anmerkungen zum Strawinski-Ballett von
Lars Scheibner und Jacob Steinberg in der Kammer

Cottbus. Skandalös vor 100 Jahren und auch heute keineswegs normale Kost. Allein die Musik mag mit ihren Staccato-Akkorden auf die Nerven gehen, reizen, aufstacheln. Der Russe Igor Strawinski (1882-1971) hat sie den Parisern zur Uraufführung 1913 orchestral zugemutet und bewirkt, dass die Leute fast das Theater demolierten. Diese orgiastisch entfesselte Rhythmik hatte die Welt noch nicht vernommen - es sei denn, jemand hätte den Anbruch eines russischen Frühlings erlebt. Diese gewaltigste aller Naturen. Sie reflektiert das Werk „Frühlingsweihe“. Mit aller Wucht, stürzte „Le Sacre du Printemps“ diesen Sommer auf Besucher der Salzburger Festspiele ein, etwas zarter, aber nicht weniger aufregend jetzt auf Ballettfreunde in Cottbus.
Hier choreografierte und inszenierte der in Leningrad geborene (also authentische) Lars Schreiber zusammen mit Jacob Steinberg (Dramaturgie) und Robert Pflanz (Bühne, Kostüme) eine kleine, völlig eigenständige Uraufführung für die Kammerbühne. Seine Apokalypse (dunkle Bühne voller Lumpen) stellt sich als Klanginstallation von Thomas Sander in Knarren, Rollen, Fiepen, Stöhnen, Heulen oder Säuseln dar, und Wesen um Wesen windet sich aus dem Chaos. Ein Koffer enthält Geld, das ohne Sinn bleibt an der Grenze zu Sein oder Nichtsein, aber darunter findet sich auch ein wundersames Leuchten, ein Modul, das Odem einhaucht.
Die Tänzerinnen Jennifer Hebekerl, Immaculada Marin Lopez, Denise Ruddock und Vanina Welijan und die Tänzer Juan Bockamp, Isvan Farkas, Stefan Kulhawec und Jason
Sabrou haben den Untergang überstanden. Schockstarr, verkrampft, eigentlich tot zwar, aber das Leuchten des Moduls und der Klang dieser Welt spenden ihnen Kraft. Der zunächst ungezügelte, dann immer heftigere und genial koordinierte Ausbruch dieser Kraft ist der Sinn des Stücks. Rasende, schlagende, ekstatische Bewegungen laufen mit unglaublicher Präzision und Beherrschung jeder Faser der Körper in Bilder und Szenen hinein, die, kaum erreicht, schon in neues Finden und Erfinden hinüber tasten, tanzen, rasen, wirbeln.
Vier Hände spielen die treibende Musik dazu in einer aus Eisen genieteten Welt-Halbkugel: Christian Georgi und als Gast für diese Inszenierung Saessak Shin bearbeiten vierhändig und in hörbarer, aber kaum sichtbarer Meisterschaft den Flügel. Wohldurchdachte Lichtregie verhüllt oder erhellt mystische Szenen dieser Frühlingsweihe in erwachender Stimmung.
Wir sahen die Generalprobe. Gestern war - gewiss umjubelte - Premiere. Am 4. und 17. Oktober sind die nächsten Vorstellungen
. J. Heinrich


LE SACRE DU PRINTEMPS. FRÜHLINGSWEIHE - Szenenfoto mit Jennifer Hebekerl
Foto: Marlies Kross




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