aus dem Hause Cottbuser General-Anzeiger Verlag GmbH

Schlecht Behütetes gut getanzt
Dirk Neumann tuscht den Ballett-Klassiker hippiebunt in die Neuzeit

Cottbus. Die Platte mit der schmeichelnden Musik von Louis Ferdinand Hérold (1791-1833) hat einen Riss. Mit einem Fußtritt beendet Lisa den Jammer und rückt das Stück
in jüngere Vergangenheit. Der Klassiker „Die schlecht behütete Tochter“ aus den Tagen der französischen Revolution (damals im Bauernmillieu) springt in die 1960er Jahre der „Blumenkinder“.
Ein spießiges Wohnzimmer ergibt den Bühnen- und Tanzraum, weit genug, auch noch zwei Reihen Zuschauer aufzunehmen. Es sind ja Episoden ihres Lebens, wollen Choreograf Dirk Neumann und
Bühnenbildner Hans-Holger Schmidt dem Publikum wohl sagen; also dürfen die Leute rein ins Zimmer. Das geht auch auf, wenn das Publikum viel später als 1960 geboren ist, denn die Geschichte hat 200 Jahre davor überstanden und bleibt auch heute gültig. Und witzig genug sowieso mit Musik nach Tina Turner und anderen Größen aus heutigem Show-Business.
Jedenfalls hat Ballettmeister Neumann mit seinem Erstling in der Cottbuser Kammerbühne viele tänzerische, manchmal auch artistische Einfälle gleichsam wie bunte Farbtupfer vom weichen Pinsel hingetuscht. Ein heiteres Bild aus Klang, Bewegung und Sinnlichkeit fügt sich zu 80 pausenlosen Minuten, nach denen sich Zuschauende zuraunen: „Toll. Das hätte ein Stück so fortgehen können.“
Das schlecht behütete Jungvolk steht im Zentrum der Handlung, obgleich es viel Zeit mit drögem Herumhängen verbringt. Das vertanzt sich natürlich schwer, also hat die langbeinige Mutter von Gast Steffen Fuchs mit schönem Pas de deux mit Staubsauger dominierende Szenen. Putzen kann sie, erziehen - behüten - gar nicht. So fällt die naive Lisa von Sandrine Berset dem Rocker Colas, den Istvan Farkas per Hechtrolle durchs Stubenfenster auftreten lässt, in den Tanzschritt. Beide bleiben eckig und ohne rechte Harmonie. Die fließt erst, als Colas verführt wird.
Witzige Vertreter-Typen, die Mutter und Tochter im biederen Hause zu erobern suchen, hat Nicole Lorenz in karierte Anzüge gesteckt, und Neumann gibt ihnen Schritte von Charlie Chaplin und Wackelköpfe wie im Stummfilm. Ohnehin durchziehen dieses Ballett - wie im historischen Vorbild - starke Elemente der Pantomime, und so trägt die Choreografie gerade mit diesen beiden Gesellen deftig auf. Vater Michaud (Aslanbek Kotsoev) baggert die zwei Köpfe längere Mutter an, Sohn Nicaise (Marek Mader) müht sich trottelig um Lisa. Die beiden sähe Mutter so gern als Paar, und während sie/er traumversunken die Augen verdreht, tanzen Sandrine Berset und Marek Mader diese mütterliche Sehnsucht mit klassischen Hebern und kultivierten Schrittfolgen nach der echten Musik. Irgendwie hat’s der alte Plattenspieler doch geschafft.
Eine Menge hübscher Einfälle gestalten den Abend immer wieder kurzweilig. So zum Beispiel die Szenen auf dem Sofa, dann das aus den Fugen geratende Haus, in dem sich alle Wände drehen und dem kiffenden, sexistischen Jungvolk der Blumenraum zuwächst. Herrlich die quirlige, schuhplattlerähnliche Tischgesellschaft und immer wieder Tischspiele auf und unter der langen Platte. Soviel Dynamisches kann natürlich nur schwungvoll enden - auf dem Sofa, das sich im Liebessturm umlegt. Da gab’s viel, viel Beifall fürs ganze Tanzteam, zu dem neben den Genannten (teils in Mehrfachrollen) Julia Grunwald, Jennifer Hebekerl und Weinina Weilijiang gehören. Am 11. und 25. April wird wieder schlecht behütet. J.H.



Nur in Mutters Augen ein Traumpaar: Lisa (Sandrine Berset) und Nicaise (Marek Mader). Ballettmeister Neumann hat „Die schlecht behütete Tochter“ in die eigene
Jugendzeit verlegt

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