aus dem Hause Cottbuser General-Anzeiger Verlag GmbH

Woher dieses Gottvertrauen in die Obrigkeit?
Ost- und Westsicht auf die Geschehnisse des 9. November 1989 im Doppel:Punkt

Nur einen Abend lang lebten sie wieder auf, die Unterschiede zwischen Wessi und Ossi, die sonst im DoppelDeck - wie überall sonst - schon lange vergessen sind. Je mehr das Erinnern an diesen 9. November und seine Folgen gelingt, desto deutlicher treten sie hervor. Eines jedoch scheint beide Seiten zu vereinen: das große Erstaunen darüber, dass diese friedliche, unblutige Revolution gelang. Ungläubig hing Ost und West an diesem historischen Tag am Radio ob der Meldungen von offenen Grenzen.
Erster Gedanke des Volkswirtschaftlers Cezanne, damals an der TU Berlin beschäftigt, nach der großen Freude: „Das wird teuer!“ Das, betont er, belaste bis heute die emotionale Einheit: „Der Westen hat geblutet für diese Einheit - der weltweite Aufschwung der 90er- Jahre ist deshalb an Deutschland komplett vorbeigegangen!“ Im Publikum Verwunderung: Gab es nicht auch Riesen-Gewinne der Konzerne an ostdeutschen Produktionen und Absatzmärkten? Nicht in Cezannes Rechnung: Unterm Strich sind 80 Milliarden Euro von West nach Ost geflossen.
Ohne Erfahrungen aus dem Westen wäre nichts gegangen, berichtet Weißflog aus den Anfangsjahren, in denen man die junge ostdeutsche Demokratie gestalten lernte: „Wieviel musste man tun, um erstmal gewählt zu werden - da überholte die Wirklichkeit schnell den Idealismus!“ Cottbuser Wendezeiten verliefen ruhiger als anderswo - der Ruf der Stadt drohte darunter zu leiden. Am 30.10.89 aber gab es auch hier die breite öffentliche Demonstration für mehr Demokratie, erinnert sich Weißflog. „Eine Erfahrung ist geblieben: Dass man für die Durchsetzung von Interessen so viele Menschen wie möglich unter ein Dach bringen muss!“ Aus den Bürgerbewegungen wurden also folgerichtig Parteien. Weißflog als ein „Dinosaurier“ der Cottbuser Demokratie ist heute noch dabei, weil er an die Kraft der Veränderung durch Mitnahme der Basis glaubt.
Da allerdings teilt Prof. Cezanne nicht seine Meinung: „Ich habe tiefe Zweifel, dass unsere Politik wirklich die Interessen der Bürger vertritt. In jedem System gilt: Man darf ihr nur so wenig Macht wie nötig geben!“ Noch nie hätte er verstanden, dass das Scheitern der Idee des Sozialismus nur an den Köpfen an der Partei- und Staatsführung festgemacht wurde. Hätten da andere gessen, dann wäre alles besser geworden - das habe er oft von Ostdeutschen gehört. „Woher kommt dieses noch heute verbreitete Gottvertrauen in die Obrigkeit?“, eindringlich fragt Cezanne.
Da nickt sogar Weißflog betroffen. Man müsse unterscheiden zwischen Macht und Politik - nicht immer liege alles in der selben Hand, wendet er ein.
Oftmals aber war es so, wie das Beispiel der Treuhandverwaltung zeigte. „Das ist sicher einer der Fehler gewesen, die man in der Eile der Geschehnisse gemacht hat“, meint Professor
Cezanne und trifft sich mit dem Publikum, wenn er die vielen Dreistigkeiten und Ungerechtigkeiten der Behörde beschreibt.
Sein volkswirtschaftliches Wissen hilft außerdem aufklären, dass die Währungsunion einen Großteil des wirtschaftlichen Niedergangs im Osten verursacht hat. 1948 hätte Westdeutschland unter Adenauer vorgemacht, wie es besser ging: Die drastische Abwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar hätte die Welt für Waren aus Deutschland geöffnet.
Dennoch sagt er, war ein Wirtschaftsknick im Osten unabwendbar: „Wenn man zwei Länder mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft vereint, blutet das schwächere aus.“ Heute, sagte er, sei das überwunden: „Mit 80 Prozent Arbeitsproduktivität ist der Osten schon lange besser als manches Bundesland im Westen!“

Emotionales Erinnern und immer auch persönliche Betroffenheit spiegeln sich im Publikum. Bilder des 9. November tauchen in den Medien deutschlandweit auf und umrahmen auch diesen DoppelPunkt-Abend. Hier ein Foto (re.) einer Montagsdemo aus Cottbus aus dem Jahre 1989


Zu Gast bei Gabi Grube waren:

Landwirtschaftminister Dietmar Woidke: „Das System muss ausgewogen sein - das ist noch nicht immer der Fall. Es gibt Verlierer und Gewinner der Entwicklung!“

 

 

 

 

 

Hans-Joachim Weißflog, früher Neues Forum, heute Bündnis 90/Grüne: „Manches hätte einfach mehr Zeit gebraucht - zuviel, was sich in zu kurzer Zeit für für die Menschen änderte!“

Volkswirtschaftler Prof. Wolfgang Cezanne (BTU): „Die Wiedervereinigung wäre eine gute Chance gewesen, die deutschen Sozialsysteme zu reformieren - man hat sie leider vertan!“

Das vorsichtige Fazit dieser Runde:

: Mit der friedlichen Revolution im November 1989 ist nicht nur das Ende der DDR eingeläutet worden, sondern auch das Ende der Bundesrepublik Deutschland in ihrer festgefügten Ordnung seit Kriegsende
: Die Wiedervereinigung ist eine der Folgen der damals beginnenden Globalisierung - nicht umgekehrt
: Ungerechtigkeiten in der Reichtumsverteilung innerhalb der deutschen Gesellschaft haben weniger mit der deutschen Wiedervereinigung zu tun, als mit der weltwirtschaftlichen Veränderung




Kommende Woche
reden wir über:

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Wem nützt, wem schadet das Rauchverbot in Gasthäusern ab Januar? Mit Lungenarzt Dr. Frank Käßner und Gastwirt Detlef Bothe

 

 

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