aus dem Hause Cottbuser General-Anzeiger Verlag GmbH

"Damals wie heute gilt: Gesicht zeigen"
Ein Pfarrer und ein Gewerkschafter streiten über Berechtigung und Inhalte der Montagsdemonstration


"Ich denke schon, daß die heutigen Proteste in gewisser Weise mit den Montagsdemonstrationen 1989 vergleichbar sind, denn es gibt einen gemeinsamen Tag für gemeinsame Forderungen", erklärt Ralf Franke, Sprecher des Cottbuser Bündnisses für soziale Gerechtigkeit. Doch hat man ganz bewußt für die heutigen Proteste in Cottbus auf den Begriff "Montagsdemo" verzichtet, da es diesmal nicht um einen "Systemwechsel geht. Denn, so Franke, "wer heute einen Systemwechsel fordert, ist nicht in der Demokratie angekommen". Stattdessen richtet sich der Protest gegen die "immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen arm und reich". "Nichts ist ja so, daß nichts verbessert werden kann, und wenn es dem Staat schlecht geht, geht es auch der Kirche schlecht", erzählt Christoph Polster, geschäftsführender Pfarrer der Oberkirche St. Nikolai. Doch er kann sich nicht damit abfinden, daß auch für die heutigen Proteste der Begriff "Montagsdemo" verwendet wird. "Schließlich wurde 1989 das politische Selbstbewußtsein etabliert, von dem die heutigen Demonstranten profitieren", so Polster. Doch räumt der Pfarrer ein, daß "Frustablassen bei Menschen, denen es wirklich schlecht geht, legitim ist". Er sieht das Problem der neuen Montagsdemos eher in der mangelnden Verständlichkeit der Hartz IV-Problematik. Doch gerade das Hartz IV-Gesetz ziele auf ein elementares Gut, "nämlich die Menschenwürde" ab, kontert Ralf Franke. Waren 1989 alle Menschen, "egal ob Busfahrer, Lehrer, oder Akademiker betroffen, fühlen sich 15 Jahre später längst nicht mehr alle Menschen angesprochen", so Franke weiter. Doch wird gerade die "Menschenwürde jener Leute in Frage gestellt, für die der Sozialstaat eigentlich gedacht ist. Im Prinzip sind sich Franke und Polster einig, das Hartz IV richtige Ansätze enthält. Doch sei, laut Ralf Franke, der Bemessungssatz viel zu niedrig. Pfarrer Polster hat hingegen Hoffnung, daß durch Hartz IV trotz aller Montagsdemos "endlich die Jobmaschine anspringt". Jedoch ist es Polster zu wenig, es "bei Meinungsäußerungen zu belassen". So sollten sich die "Prozesse des Gestaltens und des Protestierens aufeinander zugehen". Und Ralf Franke ergänzt: "1989 war es lebensgefährlich und heute noch immer zwingend notwendig, Gesicht zu zeigen".

Hintergrund

Christoph Polster wurde 1949 in Leipzig geboren. Er entstammt einer Lehrerfamilie. Ab 1968 studierte Polster in Berlin Naturwissenschaften, namentlich Physik und Meteorologie. Ab 1973 folgte ebenfalls in Berlin ein Studium der Theologie. In den 80er Jahren kam er nach Cottbus. In den letzten Jahren der DDR war Christoph Polster in der Friedensbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" tätig. Heute ist Polster geschäftsführender Pfarrer der Oberkirche St. Nikolai. Gleichzeitig engagiert er sich für die Kinder- und Jugendarbeit in Cottbus. Übrigens ruft die Oberkirche bereits seit 1984 jeden Montag zum Friedensgebet. Auch Ralf Franke stammt aus Sachsen. Er wurde in Pirna geboren. Franke erlernte zunächst den Beruf des Klempners, stieg jedoch wenig später auf die Krankenpflege um. Seit 1988 lebt er in Cottbus. Ralf Franke ist heute als Sekretär bei der Dienstleistungsgesellschaft ver.di. Er ist Sprecher des Cottbuser Bündnisses für soziale Gerechtigkeit. Dieses Bündnis ist überparteilich. Am nächsten Montag und am 4. Oktober wird es in Cottbus keine Demonstrationen geben. Den Anlaß bildet die geplante Teilnahme an der Großdemonstration am 2. Oktober in Berlin.

Zwar stets ein bißchen später als
anderswo, aber beständig wurde in
Cottbus in den letzten Jahren demonstriert. Sowohl Pfarrer Christph Polster (l) als auch Gewerkschafter Ralf Franke waren zum Beispiel bei den Demos gegen den
Irak-Krieg im Frühjahr 2003 dabei


Am vergangenen Montag versammelten
sich wieder rund 800 Menschen vor der Oberkirche. Sie protestierten gegen den Sozialabbau, insbesondere gegen Hartz IV. Nächsten Sonnabend findet in Berlin eine Großdemonstration statt
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