aus dem Hause Cottbuser General-Anzeiger Verlag GmbH

Bürger entscheiden über städtische Investitionen
Porto Alegre, Brasilien: Ein funktionierendes Modell der Partizipation
Clóvis R. Zimmermann*

Partizipation gilt in der Entwicklungszusammenarbeit seit über einem Jahrzehnt als Schlüsselbegriff. Partizipation wird aber in der Regel nur dort gewährt, wo keine Macht abgegeben werden muß, wo es also nicht um die Verteilung von Finanzmitteln geht. Eine vorbildhafte Ausnahme ist Porto Alegre, die brasilianische Millionenstadt, in der seit 1989 über den Investitionshaushalt mit Beteiligung der Bürger entschieden wird. Etwa 100 weitere brasilianische Städte haben das Modell inzwischen übernommen. Clóvis Zimmermann beschreibt, wie dieser "Beteiligungshaushalt" funktioniert.
Bei den Kommunalwahlen 1988, den zweiten freien Wahlen nach der Militärherrschaft, wurde überraschend der drei Jahre vorher gewählte populistische Oberbürgermeister durch ein Linksbündnis unter Führung der Arbeiterpartei (PT) mit ihrem Kandidaten Olivio Dutra abgelöst. Der Vorgänger hatte eine stärkere Bürgerbeteiligung versprochen, dies aber nicht eingelöst. Die neu gewählte Stadtregierung fragte sich daher bei Amtsantritt 1989, wie das Instrument der Partizipation genutzt werden könne, um die starken bestehenden sozialen Disparitäten zwischen den Stadtteilen auszugleichen und die finanziellen Mittel der Stadt gerechter zu verteilen. Bis dahin waren die Mittel vor allem unter der Klientel der Politiker verteilt worden. In den Haushaltsentwürfen brasilianischer Städte werden in der Regel keine konkreten Pläne und Maßnamen beschrieben; man bevorzugt einen offenen und flexiblen Haushalt, um jederzeit nach Bedarf entscheiden zu können. Die Machtverteilung in den Stadträten führt dann meist dazu, daß ein Großteil der Mittel den reicheren Stadtteilen zugute kommt. Dies wollte die neue Stadtregierung ändern.

Beteiligung der Bevölkerung

Um eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an den Entscheidungen zu ermöglichen, wurde die ursprünglich in 4 Bezirke gegliederte Stadt in 16 Bezirke aufgeteilt, die eine besser überschaubare Größe hatten. Für die nun zu treffenden Entscheidungen wurde ein System eingeführt, bei dem direkte Demokratie und das Delegationsprinzip zusammenwirken:
• In den 16 Stadtbezirken und zusätzlich in 6 thematischen Foren finden Versammlungen statt, an denen jeder Bürger teilnehmen kann.
• In jedem der 16 Bezirke gibt es dann eine Delegiertenversammlung.
• Schließlich gibt es auf der obersten Ebene den Rat des Beteiligungshaushalts, des Orgamento Participativo (OP-Rat), der aus je zwei Delegierten jedes Bezirks und jedes thematischen Forums besteht.
In diesem Entscheidungsfindungsprozeß werden jährlich zweimal (ab 2002 nur noch einmal) 22 offizielle Vollversammlungen abgehalten, 16 in den Bezirken und 6 in den thematischen Foren - Verkehr und Transport; Gesundheit und Soziales; Erziehung und Freizeit; Stadtentwicklung und -organisation, Wirtschaftsentwicklung und Steuerpolitik; Kultur -, die Diskussionen über alle Probleme der Stadt ermöglichen. Die Treffen werden von der Stadtverwaltung geleitet und vom Oberbürgermeister und Fachdezernaten begleitet.
Im Vorlauf dazu werden vorbereitende Treffen in den Stadtvierteln organisiert, die sich mit dem Rechenschaftsbericht der Stadt für das letzte Jahr und mit dem Investitionsplan für das kommende Jahr befassen. Danach wählen die Versammelten ihre Delegierten. Diese bilden das Bezirks-Delegiertenforum und sind für den Diskussionsprozeß mit der Bevölkerung im Stadtteil verantwortlich.
Bei den Vollversammlungen, die von Mitte Mai in den 16 Stadtbezirken und 6 thematischen Foren stattfinden, legt die Bevölkerung ihre Prioritäten fest: Gesundheit, Bildung, Asphaltierung von Straßen etc. Die konkreten Einzelprojekte werden erst nach diesen Versammlungen in den Bezirken und Mikrobezirken endgültig festgelegt.
Nach den einzelnen Vollversammlungen findet seit 2002 eine große Stadtversammlung statt, wo alle Delegierten und OP-Rats-Mitglieder zusammentreffen. (Vorher gab es lediglich eine Versammlung der Mitglieder des OP-Rats, wodurch der Erfahrungsaustausch mit der Basis zu kurz kam.) In der Stadtversammlung treten die neuen OP-Rats-Mitglieder ihr Amt an, es wird über die Rangfolge der Prioritäten der gesamten Stadt entschieden, und auch andere wichtige Themen können diskutiert werden. Die Stadtversammlung ermöglicht es den Delegierten aus den thematischen und Bezirksversammlungen, eine konkretere Vorstellung von den Forderungen und Bedürfnissen der Gesamtbevölkerung zu gewinnen.

Kriterien zur Mittelvergabe

Im Haushalt der Stadt Porto Alegre machen die Investitionsmittel 15 bis 20 Prozent aus, das entspricht etwa 50 Millionen Euro. Der Rest des Haushalts wird für Gehälter und Instandhaltung verwendet. Mit dem Beteiligungshaushalt erhält die Bevölkerung der Stadt die Möglichkeit, über die Verteilung der Investitionsmittel selbst zu entscheiden. Eine große Innovation ist dabei, daß Kriterien für die Verteilung der Mittel zwischen den Stadtteilen festgelegt werden. Das ist deswegen von Bedeutung, weil anderswo in Brasilien die knappen Ressourcen der öffentlichen Verwaltung meist unter "partikularistischen Kriterien" 1 verteilt werden, gesteuert durch die privaten Interessen der Stadtoberen und deren politischer Verbündeter. In Porto Alegre dagegen liegen der Verteilung objektive Kriterien zugrunde, die je nach ihrer Bedeutung gewichtet werden. Die Gewichtung wird vom OP-Rat festgelegt und kann sich von Jahr zu Jahr verändern. Im Jahr 2002 waren die:
a. Mangel an öffentlichen Dienstleistungen/Infrastruktur im Bezirk (Gewichtung 4);
b. Bevölkerungsumfang des Bezirks (Gewichtung 2);
c. festgelegte Priorität des Bezirks (Gewichtung 5).
Zusätzlich bekommt jeder Bezirk eine Note (1-4), mit der die jeweiligen Gewichtungen multipliziert werden; die daraus resultierenden Werte werden addiert. Anschließend werden die Punkte aller 16 Bezirke zusammengezählt, um eine Rangordnung der Prioritäten in der gesamten Stadt zu ermitteln. Daraus ergibt sich dann die Berechnung der Investitionsmittel der Bezirke, getrennt nach den einzelnen Investitionsarten.

Ergebnisse der Partizipation

Das Vertrauen der Bevölkerung in diesen Prozeß entstand, weil die neue Stadtverwaltung bereit war, die Entscheidungen über die Haushaltsplanung nicht nur zusammen mit der Bevölkerung zu treffen, sondern sie auch verbindlich umzusetzen. Der Prozeß führte deshalb zu einem regelrechten "Partizipationsfieber". Die Zahl der Teilnehmer an den Versammlungen stieg von Jahr zu Jahr, von 780 im Jahr 1989 über 11 247 (1994) auf 19 025 (2000). Wenn die inoffiziellen Veranstaltungen mitgezählt werden, dann sind es nach Angaben der Stadtverwaltung von Porto Alegre mehr als 100 000 Menschen, die sich jedes Jahr an der Festlegung der Investitionsmittel beteiligen.
In all den Jahren genossen Programm zur grundlegenden Sanierung von Wasserversorgung und Kanalisation, Müllabfuhr und Befestigung von Wegen und Straße Priorität. Der Prozentsatz der Haushalte mit Abwasseranschluß stieg von 46 im Jahr 19989 auf 84 im Jahr 1999. 1985 gab es in Proto Alegre nur dreizehn kommunale Schulen, an denen 13 357 Schüler eingeschrieben waren; bis 1999 war die Zahl der Schulen auf 89 und die der Schüler auf 51 476 angewachsen. Die üblichen Probleme vieler Stadtverwaltungen in Brasilien wie Korruption, Mittelverschwendung und Klientelwirtschaft gehören in Porto Alegre heute der Vergangenheit an. Nach einer Meinungsumfrage halten 98 Prozent der Bevölkerung von Porto Alegre die Stadtregierung für nicht korrupt. Dies sind einige der Gründe, warum diese Linkskoalition bereits dreimal nacheinander die Kommunalwahlen gewann. Mittlerweile wird das Partizipationsmodell von Porto Alegre in mehr als 100 brasilianischen Städten nachgeahmt. Das Modell war auch das Motiv dafür, daß im Januar/Februar 2001 und 2002 das erste und das zweite Weltsozialforum in Porto Alegre stattfanden, beim zweiten Mal mit rund 60 000 Teilnehmern aus 150 Ländern. Das Modell des Beteiligungshaushalts in Porto Alegre bedeutet eine Erweiterung der in der traditionellen Politik vorhandenen Entscheidungsmöglichkeiten der Bürger, ohne daß jedoch auf die repräsentativen Orange der Politik verzichtet wird. Allerdings hat sich herausgestellt, daß das Verhältnis zwischen Gemeinderat und OP-Rat konfliktträchtig ist. Ein weiteres Problem besteht in der Abhängigkeit des Prozesses von der Stadtverwaltung, ohne deren Mitwirkung er nicht möglich ist.
In Porto Alegre ist es jedoch durch die Kooperation der Stadtverwaltung mit der Zivilgesellschaft gelungen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der sowohl Anreize für die Partizipation der Bürger als auch ein neues transparentes Regelsystem ins Leben rief. Die Aufstellung von Kriterien zur Verteilung der Investitionen führte zu einer transparenten und gerechteren Vergabe der Mittel. Entscheidend für das Gelingen des Prozesses war die Schaffung eines institutionellen Rahmens, der die Beteiligung der bisher benachteiligten Schichten an den Entscheidungsprozessen ermöglichte.

*Clóvis R. Zimmermann ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und schreibt zurzeit an einer Doktorarbeit am Institut für Soziologie der Universität Heidelberg über Porto Alegre.
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